Solo im Watt

Solo im Watt

Er predigt dem Meer. Er predigt dem Morast zu seinen Füßen. Er predigt dem aufkommenden Sturm. Es macht ihn heiser und frösteln: Hoffart und Geiz, Neid und Zorn, Unkeuschheit und Völlerei, Überdruss am Leben und Überdruss am Sterben. Er stakst am Rand eines Priels entlang, zieht das rechte Bein hoch, manchmal ist es das linke, rudert mit den Armen in der Luft, er sucht das Gleichgewicht zu halten. Unerreichbar weit ist er hinausgelaufen für diesen Todsünden-Tanz. Unter ihm Begierden im Schlick begraben von Jahrhunderten, nur noch Materie stößt der Boden aus, dann und wann Scherben eines Kruges, Balkensplitter eines Hecktors, eine zerfressene Münze.
Es kommt die hochfahrende Flut. Er holt jetzt zum Letzten und zum Ganzen aus, schafft es auf eine winzige Sandbank, ringt die Hände zum Himmel, sein Mund schnappt auf und zu, Bläue überzieht die so dünne Haut, seine Hüften beginnen zu wanken, die Rippen stechen, zwei, drei Möwen, die am rasch wandernden Flutsaum Beute suchen, fliegen Scheinangriffe auf ihn, da wehrt er sich noch.
Sein nackter Körper wird am anderen Mittag unterhalb des Bistros angetrieben. Es findet ihn der Koch. Dort, wo es nach Bootsdiesel müffelt, dümpelt der Leichnam zwischen Plastikflaschen, das Gesicht nach oben. Eine Querwelle von der Mole musste ihn umgedreht haben, die Treibspuren am Körper, wie vom Meer gegeißelt. Der Vorfall ist nicht unangenehm für den Betrieb, denn die meisten Schaulustigen essen und trinken etwas, bloß dass die Einsatzfahrzeuge die Sicht verdecken.
Die vielen Bestellungen bringen den Koch ins Schwitzen, ein außergewöhnlicher Tag. In einer Pause greift er zum Handy, eine weibliche Stimme antwortet. Er will erzählen, verhaspelt sich, möchte mehr sagen, was von Liebe und Tod. Tagsdrauf erscheint er früher zum Dienst, setzt ein Lattenkreuz in die Böschung.
Wie die Zeitung berichtet, lebte der Prediger im Landeskrankenhaus. Er habe sich für Christus gehalten. Andere Patienten wollten ihn kurz vor Ostern in der Toilette kreuzigen. Der robuste Einsatz des Pflegepersonals hatte das gerade eben verhindern können.
Seine akkurat zusammengelegte Kleidung findet man unter einer Bank am Deich. Ein nasses unscheinbares Häufchen.


© hertz