Moya

Moya

Morgens um sieben geht die Sonne auf und abends um sieben geht sie unter. Moya lebt mit ihren Eltern am Fuße der steinnackten Hügelkette, dort wo die Frauen und die Männer mit der tiefen Hacke auf die Maisfelder ziehen. Alle bangen und beten um die goldgelben Körner, Nahrung für ein ganzes Jahr. Sie wohnen in einer Lehmhütte. Moya ist der Augenstern ihrer Eltern, weitere Kinder wurden ihnen nicht geboren.

Schon früh weiß Moya, dass es ein Geheimnis geben muss in der Hütte. Denn im Vorratsraum steht ein seltsamer Korb. Er ist wie die anderen Körbe aus den breiten, harten Grashalmen geflochten, die man in der Flussniederung dafür schneidet. Über ihn ist ein Deckel gestülpt, der an beiden Seiten mit gebogenen Holzpflöckchen vom Akazienbaum befestigt wird. Die Mutter muss ihn aus dem Land am Fluss mitgebracht haben, woher sie stammt. Die rundum laufenden roten Zierstreifen, gewunden wie Antilopengehörn, kennt man im Dorf nicht.

Niemals holt die Mutter etwas aus diesem Korb heraus, so scheint es ihr. Niemals legt sie etwas hinein. Dennoch sind die Akazienpflöckchen über die Jahre glänzend und blank geblieben - genauso wie bei dem Korb, in dem das tägliche Salz und die Gewürze aufbewahrt werden. Das fällt Moya erst später auf, als sie so recht kein Kind mehr ist.

Eines Tages nimmt die Mutter sie beiseite und sagt, nun müssten sie über den Korb reden. Doch sie erklärt nichts, sondern erzählt, dass sie den Korb schon von ihrer Mutter habe und die erbte ihn von der Urahnin, die ihn jedoch auch nur übernommen habe. Irgendwann einmal habe eine entfernte Ahnfrau den Korb von Munu bekommen, dem großen Gott der Menschen und Rinder am Fluss. Dann sagt die Mutter zu Moya: »Meine Tochter, wenn du dich stark genug fühlst, sollst Du in den Korb schauen!«

Als die Mutter einmal zum Brennholzsammeln weit fort ist, der Vater hat seinen Markttag, schlüpft sie in die fensterlose Vorratskammer und holt den Korb an die Türöffnung der Hütte. Behutsam zieht sie die Pflöckchen heraus, hebt den Deckel ab. Nichts. Sie verschließt ihn wieder. Ein spöttisches Lächeln umspielt ihre Mundwinkel, als sie später der Mutter hilft, die Holzbündel vom Kopf zu heben.

Die Mutter ahnt, dass etwas geschehen ist: »Der Korb!«  –  »Du hast es selbst erlaubt! Außerdem ist er leer!« Schon steht die Mutter in der Vorratskammer, ergreift den Korb und geht fort in Richtung Sonnenuntergang. Es ist dunkel, als sie zurückkehrt. Moya nimmt sich vor, nie mehr an den Korb zu denken. Aber als der Mond durch alle seine Häuser gewandert ist, erwacht in Moya wieder die Lust zum Korb.

Als ein Tag günstig scheint, schleicht sich Moya abermals in die Vorratskammer. Sie löst die Holzpflöckchen, hebt den Deckel, blickt hinein, ihre Augen sehen so wenig wie beim ersten Mal. Flink schafft sie den Korb an seinen Platz. Sie weint Tränen, die lange nicht trocknen wollen. Als die Mutter zurück ist, sieht sie in die feuchten Augen Moyas. Sie sagt: »Du warst am Korb!«  –  »Es ist wirklich nichts drin!« Und als Moya noch so redet, ist die Mutter in der Vorratskammer, ergreift den Korb und verschwindet in Richtung Sonnenuntergang. Erst als es dunkel wird, betritt sie die Hütte.

Moya nimmt sich noch fester vor, den Korb zu vergessen. Je mehr sie es versucht, desto öfter läuft er durch ihre Gedanken. Als abermals ein Jahr herum ist, kann sie es nicht mehr aushalten. Sie macht es wie die beiden Male zuvor. Als sie jedoch diesmal in den Korb blickt, wird ihr seltsam zu Mute. Sie lacht nicht mit ihrem Mund und weint nicht mit ihren Augen  –  es ist etwas anderes. Sachte schließt sie den Korb, stellt ihn zurück in die Vorratskammer. Als die Mutter zu hören ist, läuft sie ihr entgegen und umarmt sie.


© hertz