Madonna

Madonna im Gitterbett

Sie thront in ihrem vergitterten Bett. Sie empfängt nur mit den Augen. Er hat keinen Mut, sie voll anzuschauen. Zwei, drei Versuche hatte er gemacht, dann gab er das Irisspiel verloren. Es fiel ihm ein Zooerlebnis ein aus den Tagen erster Verliebtheit. Sie versuchten die Raubkatze hinter der Umzäunung zu fixieren, ihre Tierheit herauszulocken. Was ihnen gelang. Anders auf der Station. Er ist es, der ausbrechen könnte, die Frau hinter den Stäben hält dem Blick stand.

Er ist nicht der einzige, der davon irritiert zu sein scheint. Der abgemagerte Christus an der Wand guckt weg, in den Park hinaus mit den Kastanien. Man kann ihm die Rippen zählen - es sind fünf vom Bett aus gesehen. Die Seitenwunde wird zu einem fingerbreiten Spalt, der das Holz aufgerissen hat. Was starrt sie denn immer auf diese Stelle, wenn er neben ihr sitzt?

Er weiß nur weniges von ihr, sie kannten sich zu kurz. Einmal vertraute sie ihm etwas aus der Kindheit an. Sie habe in den ersten Lebenswochen im Kinderwagen schlummernd unter blühenden Kastanienbäumen gestanden, sänftigende Winde kamen vom Meer. Das war ihre französische Zeit, strahlte sie, der verdanke sie ihren Vornamen, Veronique. Eine Woche später buchte sie ein spirituelles Seminar bei der Volkshochschule und schenkte ihm am Ende eine selbst gefertigte Spruchkarte. Unter einem Batikbildchen mit Kastanienkerzen vier Gedichtzeilen:

Ein Windstoß läßt im luft'gen Traum
die zarten Blütenblätter stieben,
ein Wunderhimmel zum Verlieben
sinkt seicht herab zum Meeressaum.

Nach einer Anstandsfrist würde er die Karte weggeworfen haben, keinen Ballast, das war sein Motto. Der Unfall kam ihm zuvor und er hütet jetzt alles, was er von ihr hat.

Öfter erscheint Veronique ihm wie eine taubstumme Göttin, besonders wenn sie ihr meerblaues Kattunkleid trägt, das mit dem Rankenmuster, man könnte es von weitem für eine Geheimschrift halten. Welches Geheimnis? Sie sagt ja nichts. Sie hört ja nichts. Sie weiß ja nichts. So gewiß darüber ist er sich allerdings nicht, auch wenn die vom Pflegedienst es ihm ungefragt versichern. Warum der ständige Hinweis darauf, wollen sie ihn ermutigen, unerhörte Reden zu halten? Es müßte mal was gesagt werden, das findet er allerdings auch.

Aber er spricht zu ihr vom Wetter und von dem, was in der Zeitung steht. Von verunglückten Autos jedoch nicht. Dann ist die halbe Stunde auch um, die man dem Besucher eingeräumt hat. In den ersten Monaten blieb er länger, nicht weil es etwas nützte, eher aus Pietät. Der Pfleger bat ihn um Straffung. Veronique wäre immer sehr aufgeregt und es brauchte bisweilen die ganze Nachtschicht, um sie zu beruhigen. Erleichtert faßte er sich fortan kürzer. Regelmäßig bringt er einen Strauß Blumen mit. Er ist stolz, diese Besuche auf sich zu nehmen.

Seit kurzem gibt es nicht nur die Göttin in der Anstalt. Da ist im normalen Leben eine leibhaftige Frau hinzugekommen. Sie möchte Veronique nicht besuchen. Der nächste Termin wird ihm unbequem. Er ist spät dran, Schnittblumen sind ausverkauft, er greift zu einem Topf mit Alpenveilchen. Auf der Station scheint es wie immer zu sein. Der Hauptpfleger nickt ihm zu. Eintritt in das Zimmer mit einem gekonnt forschen Gruß. Christus guckt aus dem Fenster. Die Dielen knacken an den üblichen Stellen. Die Kastanien rauschen. Er wickelt sein Mitbringsel aus, stellt die Blume auf den Nachttisch, geht zum Mülleimer mit dem Papier.

Sein Blick streift ihr Gesicht. Die Lider sind geschlossen. Er schiebt sich zum Fenster, stützt sich auf die Sprossen. Im Park die Kastanien nehmen den Schleier.

© hertz